Europa im Streik: Unterschiede und Gleichheiten
Vor welchen Herausforderungen stehen Gewerkschaften und Beschäftigte beim Streiken? Darüber haben wir bei unserem 5. vida-Gewerkschaftstag mit Gewerkschafter:innen aus Europa diskutiert!
„Die rechtliche Lage bezüglich Streiks ist in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich geregelt. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass wir in Österreich Streiksekunden und nicht Streiktage – wie etwa in Frankreich – messen“, sagte Olivia Janisch, stv. vida-Vorsitzende, bei der hochkarätig und international besetzten Diskussion zum Thema „Europa im Streik!“. Dabei ging es um die Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern und vor welchen Herausforderungen Gewerkschaften beim Streiken stehen. Die Diskutant:innen waren sich darin einig, dass in Ländern, wo rechte Parteien regieren und die Demokratie in Bedrängnis kommt, auch das Streikrecht in Gefahr ist. Umso wichtiger ist es daher, dass Gewerkschaften ihre Forderungen in die Allgemeinheit tragen, um diese für sich und ihre Forderungen für die Arbeitnehmer:innen zu gewinnen.
Streik: Unterschiedliche rechtliche Situation in Europa
In den EU-Ländern ist die rechtliche Situation bezüglich des Streikrechts unterschiedlich, so Janisch weiter. „In Österreich haben wir eine Streikfreiheit. Das hat eine spezielle Geschichte, da die Sozialpartnerschaft nach dem zweiten Weltkrieg als Stabilisator gewirkt hat. Lange Zeit gab es daher weniger Notwendigkeit zu streiken. Erst seit den 2.000er-Jahren haben konservative und rechte Kräfte die Sozialpartnerschaft eingeschränkt. Das ist ein direkter Angriff und man hat von oben den Klassenkampf ausgerufen. Die Gewerkschaft vida hat das schnell erkannt und gehandelt: Wird die Sozialpartnerschaft aufgekündigt, müssen wir eine Antwort geben“, so Janisch, warum die Zahl der Protest und Streiks auch in Österreich in den letzten Jahren im Steigen begriffen war.
Streik der Eisenbahner:innen: Wir haben Mut bewiesen
„Wir als Gewerkschaft sind immer in einer Koalition mit den Beschäftigten und unseren Mitgliedern. Wir können aufstehen und uns stark machen und sind so streikfreudig wie nötig“, sagte Janisch, dass die vida im Jahr 2022 beim 24-Stunden-Streik der Eisenbahner:innen das richtige getan und Mut bewiesen hat. Der Streik hat massive Verbesserungen gebracht mit bis zu 29 Prozent Gehaltserhöhung bei den unteren Einkommensstufen. „In Bereich der Eisenbahnen haben wir einen hohen Organisationsgrad – das ist Stärke, Macht, Risiko und Verantwortung zugleich“, betone die vida-Gewerkschafterin.
Wichtig ist auch, fügte Janisch hinzu, es kann niemand einen Streik ausrufen, ohne die Beschäftigten hinter sich zu haben. Das hat 2023 auch bei den Privatkrankenanstalten sowie 2024 bei der AUA und den Fahrradbot:innen funktioniert. „Wir üben uns in Solidarität – in Wort und Tat – innerhalb der europäischen Gewerkschaftsbewegung. Gemeinsam kämpfen und zusammenstehen ist das Motto“, betonte die stv. vida-Vorsitzende die Wichtigkeit der internationalen Solidarität und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Gewerkschaften.
ETF: Demokratie gegen inakzeptable Angriffe der Politik verteidigen
„Der Sommer 2022 hat gezeigt, dass der Verkehrssektor in schlechter Verfassung ist. Das war der Grund für zahlreiche Streiks im Flug- und Eisenbahnbereich und steht im klaren Zusammenhang damit, was die Europäische Union getan hat“, verwies Spera darauf, dass sich die Arbeitgeber während der Pandemie völlig unzureichend verhalten und viele Leute entlassen haben. Zudem hat sich die EU-Kommission in die Gehalts- und Sozialpolitik eingemischt, was sich negativ auf die Arbeitsbedingungen ausgewirkt hat. Darin sieht die ETF-Präsidentin die Gründe, warum die Streiks und Proteste in den letzten Jahren in Europa zugenommen haben. Versuchen Regierungen oder die EU das Streikrecht einzuschränken, dann müssen sich die Gewerkschaften dagegen wehren. „Die Europäische Kommission hat gar nicht das Recht, Streiks auszusetzen. Es handelt sich dabei um Versuche, das Streikrecht in Krisensituationen einzuschränken“, betonte Spera, dass die Demokratie gegen inakzeptable Angriffe durch die Politik verteidigt werden muss.
Behandelt wie Tiere, gekämpft wie Löwen und gewonnen
Der LKW-Lenker:innen-Streik auf einem Parkplatz im deutschen Gräfenhausen war ein Beispiel für einen riesigen multinationalen Streik. Gewerkschaften sollten Antworten darauf liefern, wie damit umgegangen wird, wenn mehrere Länder beteiligt sind, so wie es etwa bei LKW-Fahrer:innen der Fall ist, die über mehrere Landesgrenzen hinweg tätig sind“, sagte Transportgewerkschafter Edwin Atema von der niederländischen Gewerkschaft FNV bei der Diskussion. Der Protest auf der deutschen Autobahnraststätte Gräfenhausen, bei dem Atema und die deutsche Gewerkschaft ver.di die Streikenden unterstützten, sorgte Anfang 2023 für großes mediales Aufsehen. Nach zwei Monaten Streik erzielten die LKW-Lenker:innen und ihre Unterhändler eine Einigung bezüglich ausstehender Löhne von in Summe einer halben Million Euro mit der polnischen Spedition, für die sie tätig waren.
Bis zu 120 Fahrer aus Georgien, Usbekistan, Kasachstan und anderen zentralasiatischen Republiken beteiligten sich am Streik. Das Besondere an diesem Fall war laut Deutschem Gewerkschaftsbund auch, dass nicht die polnische Spedition, sondern verantwortungsbewussten Akteure aus der Lieferkette für die offenen Lohnzahlungen aufkamen. „Die Fahrer wurden während ihres Streiks seitens der Firma erpresst, diskriminiert und bedroht. Wie man gesehen hat, benötigt man für den Erfolg eine starke Gewerkschaftsstruktur, die international rasch handeln und eingreifen kann: Behandelt wie Tiere, gekämpft wie Löwen und gewonnen“, brachte Atema den Streik von Gräfenhausen auf den Punkt.
Ungarn: Streikrecht wird oft eingeschränkt oder genommen
„Die Frage ist, wie kann man jungen Beschäftigten schmackhaft machen, dass man gemeinsam auftritt und ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt“, so Ákos Kovács, stv. Vorsitzender von Control, Gewerkschaft der Flugsicherung Ungarns (Control MLISZ), in seinem Statement bei der Diskussion. In Ungarn fehlt eine gewisse Streikbereitschaft, was oft am falschen Verständnis des Begriffs Streik liegt. Streik sollte kein Mittel, sondern ein Ziel sein, um einen Dialog zu einer Einigung zu ermöglichen. „Viele Beschäftigte sehen einen Konflikt mit den Interessen der Arbeitgeber:innen und des Staates.“ Wenn etwa die Fluglots:innen oder andere staatsnahe Bereiche streiken wollen, dann wird ihnen das Streikrecht eingeschränkt oder genommen. Es muss daher auch der Regierung in Ungarn vermittelt werden, dass es auch in ihrem Interesse ist, mit den Gewerkschaften für die Beschäftigten zu einer Einigung zu kommen, so Kovács.
Hat der Arbeitskampf in Frankreich Tradition?
Ganz anders als in Ungarn stellt sich die Streik-Situation für David Gobé von der französischen Transportgewerkschaft CGT dar: „Es gab seit der französischen Revolution viele Streiks im Land und demnach ist eine gewisse Struktur dafür vorhanden. Dennoch benötigen wir noch viel Koordinationsarbeit in Frankreich. Streik ist in Frankreich ein Teil der Verfassung und wir können streiken, wann wir wollen. Der historischste Streik war jener der Eisenbahner:innen, der 41 Tage andauerte. Das war ein harter Kampf und brachte einen riesigen Verlust von 800 Millionen Euro für das französische staatliche Eisenbahnunternehmen SNCF. Die Arbeitgeberschaft geht in Frankreich sehr hart vor, deshalb muss man mobilisieren, um etwas zu erreichen“, betonte der französische Gewerkschafter.
Akzeptanz in der Öffentlichkeit für Streikerfolge ausschlaggebend
„Das Gesundheitswesen ist auch in Deutschland seit den 1970er Jahren chronisch unterfinanziert. Auf Krankenhäusern lastet ein immenser Kostendruck, dennoch muss man sich gegen Lohnkürzungen wehren und Lohnerhöhungen unter anderem mit Streik durchsetzen“, berichtet Alexander Eichholtz, Klinikpersonalrat der Berliner Charité, aus der deutschen Praxis im Gesundheitswesen. In der Charité ist es gelungen, sich gegen geplante Lohnkürzungen bei den Krankenpfleger:innen zu wehren. Eichholtz unterstrich, dass man für erfolgreiche Streiks heute mehr als traditionelle Gewerkschaftsarbeit benötigt. Man muss die Leute motiviere, die Sache auch selbst in die Hand zu nehmen und politischen Druck erzeugen. Hohe Mobilisierung und die Schaffung von Akzeptanz in der Öffentlichkeit sind für den Erfolg von Protest und Streiks ausschlaggebend, sagte der Personalrat.
Hier ein paar Foto-Impressionen: